Seymour Hersh: «Ob Sie und die Öffentlichkeit mir glauben, ist mir scheissegal» (2024)

Interview

Der amerikanische Starreporter Seymour Hersh hat einst die Wahrheit über das Massaker von My Lai enthüllt. Heute sind seine Recherchen umstritten. Im Interview verteidigt er seine Befunde, nach denen die USA die russische Gasleitung Nord Stream gesprengt haben soll.

Marc Neumann, Washington DC

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Seymour Hersh ist kürzlich 86 geworden, aber seine Artikel schlagen immer noch ein. Ursprünglich Polizeireporter, hat er mit seinen Recherchen unter anderem dazu beigetragen, dass US-Präsident Richard Nixon 1974 zurücktreten musste. Er war der Erste, der über das Massaker amerikanischer Soldaten im vietnamesischen Dorf My Lai berichtete, und er enthüllte, was während des Irakkriegs in Abu Ghraib passierte.

In jüngster Zeit hat Hershs Glaubwürdigkeit gelitten, etwa wegen fragwürdiger Theorien zum Syrien-Krieg. Seine Behauptung, nicht die Russen, sondern die Amerikaner hätten im letzten September die Gaspipeline Nord Stream gesprengt, wurde vor allem in Russland bejubelt. Allerdings gibt es bis heute auch keinen Gegenbeweis. Das Interview mit Seymour Hersh beginnt am Telefon, es endet auf der Veranda seines Einfamilienhauses im grünen und wohlhabenden Washingtoner Quartier Cleveland Park. Denn als ihn die NZZ fragt, wie man die Glaubwürdigkeit seiner Geschichten und Quellen prüfen könne, schlägt er vor, das Gespräch bei ihm zu Hause fortzusetzen – mürrisch, wie es sich für den Eigenbrötler gehört.

Herr Hersh, im Februar behaupteten Sie in einem Artikel, die USA und Präsident Biden stünden hinter dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines. Skandinavische Medien haben unlängst eine neue Version vorgeschlagen: Ein ungenannter, pensionierter britischer Marine-Offizier will recherchiert haben, dass im Juni 2022 mehrere russische Schiffe mit ausgeschaltetem Transponder am Ort der späteren Sabotage waren. Ihr Kommentar?

Genial, diese Russen! Wirklich cool: Sie schicken Schiffe, unter anderem einen Minenleger, an den Ort, wo man eine Bombe verschenkt, um die Pipelines in die Luft zu jagen. Wo liegt der Fehler?

Ja, wo?

Sie würden mich das doch nicht fragen, wüssten Sie die Antwort nicht. Wie um Himmels willen können Sie glauben, dass russische Schiffe in der meistüberwachten Seezone der Welt, dem Baltischen Meer, nahe dieser Insel...

Bornholm.

Genau. Nehmen wir an, die Russen wollen die Pipeline zerstören. Dazu suchen sie sich Bornholm aus, bewerten die Gegend ein paar Tage und kommen später zurück, um die Bombe zu legen. Warum sollten sie das tun? Die einzige Erklärung dafür ist, dass sie der ganzen Welt sagen wollten: «Wir waren’s!» (Lacht.) Es ist totaler Unfug.

Es kursiert noch eine weitere Theorie, die der «Andromeda»-Segeljacht: Eine sechsköpfige, proukrainische Crew soll von Rostock aus in See gestochen sein, um die Pipelines zu sabotieren. Was halten Sie davon?

Ich habe über all das Zeugs geschrieben. Warum muss ich Ihnen diese elementaren Dinge erklären? Wenn Sie wirklich glauben, eine 16-Meter-Jacht könne in 80 Meter Tiefe ankern, zwei Taucher und Minenleger vom Heck absetzen, in schweren Anzügen, mit Gasflaschen und einer Menge C4-Sprengstoff, den sie auch noch platzieren müssen, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Und wenn Sie den Unterschied zwischen meiner Geschichte und den von anderen Leuten verbreiteten Geschichten nicht erkennen können, dann kann ich Ihnen noch weniger helfen.

Ihre Geschichte wurde von anderen Medien sogar falsch kolportiert: Es hiess, Sie hätten behauptet, die Attentäter hätten Sprengstoff in Pflanzenform auf den Nord-Stream-Pipelines angebracht.

Was für pflanzenbasierte Sprengstoffe?

Das war ein Übersetzungsfehler des deutschen Fernsehsenders ARD. Weil Sie von «planted C4 Charges» schrieben, behauptete ein Faktenchecker: «Hersh schreibt, die Taucher hätten den plastischen Sprengstoff C4 ‹in Form von Pflanzen auf den vier Pipelines› platziert.» Haben Sie nie davon gehört?

Ah, doch. Aber die meisten Leute haben das richtig verstanden. Egal, meine Geschichte ist da, setzt euch damit auseinander oder nicht. Die andere lustige Sache an der «Andromeda»-Geschichte war, dass man auf dem Schiff TNT-Pulver und zwei falsche Pässe fand. Klar, wir lassen ja alle falsche Pässe auf einem Boot liegen. Das war wirklich eine schlechte Geschichte.

Was ist die bessere Geschichte? Sie behaupten, die von den USA eingesetzten Attentäter seien mit einem norwegischen Schiff an den Tatort gelangt. Ein Schiff dieser Klasse soll aber zur Tatzeit nicht vor Ort gewesen sein.

Zuerst müssen Sie einmal verstehen, was Open Source Intelligence ist. Osint sind Signale, die man wirklich nicht sehen kann. Sie müssen einfach die Signale ausschalten, dann sieht man nichts. Das norwegische Schiff, von dem ich schreibe, ist ein Minensucher der Alta-Klasse. Dieser hat im Juni 2022 den C4-Sprengstoff nach Bornholm gebracht, aber sie haben natürlich nichts gesehen.

Wer sind «sie»?

Die Welt. Niemanden interessiert es, dass die USA es getan haben. Niemand aus der US-Presse fragt Jake Sullivan (den Präsidentenberater für nationale Sicherheit, Red.) oder Staatssekretär Tony Blinken nach der enormen Macht des Präsidenten, die Sache in Auftrag zu geben. Ich habe darüber geschrieben. Man könnte ja die US-Geheimdienste danach befragen, denn die sind immer noch sehr gut. Aber die Amerikaner können das nicht tun, weil sie die Antwort kennen. Aber so ist es nun mal – man will’s nicht wissen. Keine grosse Sache. Wissen Sie, was ein Transponder ist?

Ja, eine Art Sender und Empfänger zur Ortung von Schiffen oder Flugzeugen.

Es ist gegen das Gesetz, den Transponder auszuschalten. Aber wenn Joe Biden über den Atlantik fliegt, um Selenski zu treffen, schalten sie ihn aus. Dasselbe taten sie mit dem norwegischen Schiff, das die Minenleger, die Taucher absetzte. Aber wenn etwas unter Wasser passiert, etwa Minenlegen, dann müssen sie mit den Ausführenden kommunizieren können, für den Fall eines Rückzugs oder einer Evakuation. Die meisten dieser Kommunikationen werden von einer amerikanischen Air-Force-Einheit gemacht, mit einem Flugzeug namens «Rivet Joint». Ich habe über dieses RC-135-Flugzeug schon vor 40 Jahren geschrieben. Man hat einen geheimen Kommunikationskanal, und die Idee ist, keine elektronische Präsenz zu haben. Und so kann man es maskieren. Man kann solche Bewegungen sogar künstlich schaffen. Sie könnten die ganze japanische Armada auf dem Flug nach Pearl Harbor nachstellen. Alle spielen halt ihre Spiele.

Ist das kein Problem? Jeder spielt Spielchen, benutzt anonyme Quellen.

Ich benutze sie regelmässig, seit ich in den 1960er Jahren mit investigativem Journalismus begonnen habe. Immer kontaktierte und recherchierte ich Leute – aber es gab keine Quellenangaben. Noch bei der «New York Times» nannten 90 Prozent meiner Artikel keine Quellen. Als ich schrieb, dass die CIA amerikanische Bürger ausspähe, war da keine Quelle namentlich genannt. Glauben Sie wirklich, dass viele Leute heutzutage Quellen haben, die so lange aktiv dabei waren wie ich? Ich bin seit langer Zeit dabei, ich kenne viele Leute. Und niemand von ihnen bekam je Schwierigkeiten. Es gibt viele Sachen, die ich nicht schreibe, weil ich niemanden gefährden will. Aber egal, ich will und kann gar nicht darüber sprechen.

Dafür sind Sie berühmt und berüchtigt. Wie kann ich als normaler Medienkonsument entscheiden, welche der sich widersprechenden Versionen zum Nord-Stream-Anschlag stimmt? Welche anonymen Quellen sind glaubwürdig? Und wer lügt?

Glauben Sie wirklich, es schert mich, worüber Sie beunruhigt sind? Ich habe eine Familie, ich kümmere mich um Hund, Katze und die Wüstenrennmaus. Ich kann mich nicht auch noch um Sie kümmern. Ich kann Ihnen nicht helfen oder Sie überzeugen. Ich habe eine Story geschrieben. Wenn Sie diese nicht glauben wollen oder die Details nicht goutieren können, dann ist das Ihr Problem. Ich verstehe nicht, warum Sie hierauf beharren.

Weil es mich als Aussenstehenden verunsichert.

Das tut mir wirklich leid. Vielleicht sprechen Sie mit Ihrem Therapeuten drüber. Oder haben Sie einen netten Hund? Labradore sind gute Zuhörer.

Ich habe weder Hund noch Therapeut.

Gehen wir weiter, ich kann Sie offensichtlich nicht zufriedenstellen. Reden Sie einfach weiter mit Ihren Leuten vom Geheimdienst, der CIA und aus dem Weissen Haus, die alle lachhaftes Zeug verbreiten.

Sie veröffentlichen Ihre Texte seit Anfang dieses Jahres auf der Plattform Substack. Schon vor fünf Jahren haben Sie derartige Internet-Plattformen als publizistische Zukunft gelobt. Warum hat es so lange gedauert, bis Sie dorthin gewechselt haben?

Manchmal habe ich genug vom Dasein eines Reporters. Ich habe ein paar Filme geschrieben und eine schöne Pension von der Writers Guild in Hollywood – die leider gerade streiken müssen. Ich hatte ein Projekt vor Covid, aber dann langweilte ich mich.

Also starteten Sie Ihren Substack. Sagen Sie mir, wie viele zahlende und nichtzahlende Abonnenten Sie haben?

Natürlich nicht. Aber ja, ich kriege viel Aufmerksamkeit, vermehrt auch aus Europa. Die Nord-Stream-Story war zwar gratis – aber immerhin schauten 47000 Leute in den ersten 10 Stunden drauf. Aber lassen Sie mich etwas Wahres sagen: Substack ist ein phantastisches Computer-Ding. Und ich bin ein Technikfeind, ich hasse das Computer-Ding. Ich habe nicht einmal darauf zugegriffen, auch nicht auf die betriebswirtschaftliche Seite. Meine Mitarbeiter tun das, die können ins System gehen und eine Geschichte aufschalten oder ändern. Aber ich habe nicht einmal ein Passwort.

Sie kontrollieren gar nicht, was da steht?

Was Sie zu Substack wissen müssen: Ich habe Geld investiert und den besten Redaktor eingestellt, mit dem ich je gearbeitet habe. Er war mein Redaktor bei der «London Review of Books». Ausserdem bezahle ich einen der besten Fact-Checker. Er arbeitete für mich beim «New Yorker», er kannte alle meine Leute. Mit anderen Worten: Ich kann meine Quellen nicht offenlegen. Aber ich habe einen Fact-Checker und einen Redakteur, die mit ihnen gesprochen haben. Und die zwei sind echt.

Können Sie mir die Namen der beiden nennen?

Nein. Ich glaube nicht, dass die beiden damit einverstanden wären, ihre Namen gedruckt zu sehen. Wieso wollen Sie das wissen?

Um Ihre Angaben zu verifizieren – das würde doch auch die Glaubwürdigkeit von Ihnen und Ihrer Version von Nord Stream erhöhen.

Das ist das wirklich Verrückteste, was mir je widerfahren ist! Aber Sie können gerne schnell vorbeikommen, dann zeige ich Ihnen meine E-Mail-Korrespondenz mit den beiden – vorausgesetzt, Sie verzichten auf die namentliche Nennung.

Kurze Zeit später erwartet Seymour Hersh die NZZ auf der Veranda seines Hauses in Washington, den Laptop in der Hand. Er finalisiert gerade sein nächstes Substack-Stück, zeigt Echtzeit-E-Mails mit redaktionellen Änderungsvorschlägen der erwähnten Fact-Checker und Redaktoren. Die E-Mails sind echt, Namen und Funktionen branchenbekannt. Auf Wunsch von Hersh bleiben sie ungenannt.

Danke. Glauben Sie nicht, dass solche Informationen die Leser von der Wahrheit Ihrer Geschichten überzeugen könnten?

Noch mal, ob Sie und die Öffentlichkeit mir glauben, ist mir scheissegal! Ich mache dasselbe wie beim «New Yorker», schreibe Geschichten, einfach mit mehr Freiheit. Die Sachen laufen anders unter verschiedenen Präsidenten – Sie verstehen.

Wie meinen Sie das?

Zeitungen wie die «New York Times» und die «Washington Post» haben heute Horror vor einer weiteren Trump-Kandidatur. Deshalb können sie sich nicht auf die furchtbare Aussenpolitik von Joe Biden einlassen. Amerika ist zurückgeblieben. Die Saudi verkaufen mittlerweile Öl in Yuan, alle werden wieder freundlicher gegenüber Iran und Syrien, gegenüber der Achse des Bösen aus den Bush/Cheney-Tagen. Die Welt bewegt sich vorwärts, und meiner Meinung nach sind wir Amerikaner nicht mehr Teil dieser Bewegung.

Bereitet Ihnen das Sorgen?

Es ist grossartig. Ich liebe, wie locker sich das bewegt. Es ist ziemlich wild, wir haben so viel Einfluss verloren. Die Welt hält nicht mehr viel von uns. Aber wir haben davon keine Ahnung.

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Josef Aigner

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Wer den Substack-Artikel von Hersh gelesen hat weiß doch, dass die Geschichte stimmt. So viele Details, alles wirkt logisch, es gibt viele Anknüpfungen an bekannte Fakten.Hersh war immer vertrauenswürdig, daran hat sich nichts geändert. Geändert hat sich der Umgang der Mainstream-Medien, sowohl in den USA als auch Europa, mit der Wahrheit, der Realität.Man hat sich mit der Hersh Geschichte inhaltlich ja gar nicht beschäftigt, nur persönliche Diffamierungen gegen Hersh. Auch dieses Interview ist ein Versuch Hersh zu diskreditieren, „umstritten“, „Hershs Glaubwürdigkeit gelitten“, „fragwürdiger Theorien zum Syrien-Krieg“, „in Russland bejubelt“ dienen dazu. Ist es ein Maßstab für die Wahrheit, wenn sich das US-Establishment nicht freut, dass Hersh aufdeckt, dass letztlich Biden den Befehl zur Sprengung der Pipeline gegeben hat?Und dann wundert man sich, dass der westliche Polit-Mediale Komplex sowohl in der eigenen Bevölkerung als auch im Rest der Welt an Vertrauen verliert?

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Renate Beck

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Ich denke, dass die Äußerungen von Seymour Hersh umstritten sind, weil sie nicht in das westliche Meinungsbild passen. Jeder muss sich doch fragen, warum hat die deutsche Regierung kein Interesse an der Aufklärung der Sprengung der Pipeline. Deutschland ist inzwischen ein souveräner Staat und sollte nicht der USA hörig sein.

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