Seymour M. Hersh und Nordstream: Ein Starjournalist auf Abwegen (2024)

Er hat Kriegsverbrechen der USA in Vietnam und im Irak aufgedeckt, recherchierte im Watergate-Skandal. Jetzt will der amerikanische Starjournalist Seymour M.Hersh herausgefunden haben, dass die USA hinter der Sprengung von Nord Stream stecken. Doch es gibt viele Zweifel.

Katja Müller, Chicago

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Es ist bis jetzt unklar, wer die Nord-Stream-Pipelines im vergangenen September gesprengt hat. Der Journalist Seymour Hersh allerdings glaubt es genau zu wissen. In seinem Blog beschuldigt er die USA. Marinetaucher hätten in einer geheimen Mission auf Geheiss von Präsident Joe Biden Sprengsätze angebracht, die einige Monate später gezündet worden seien. Gestützt wird die These durch eine einzige anonyme Quelle; Dokumente oder andere Beweise fehlen. Die amerikanische Regierung dementierte umgehend. Kritiker weisen auf die lückenhafte Beweislage hin. Von Russlands Medien wird Hershs Theorie dankbar aufgenommen, in den sozialen Netzwerken werden die «Mainstream-Medien» beschuldigt, die Wahrheit zu verschweigen.

Der Urheber dieser Kontroverse ist nicht irgendjemand. Der mittlerweile 85-jährige Seymour Hersh ist eine Legende des amerikanischen Journalismus. Seit sechs Jahrzehnten recherchiert er im Dunstkreis der Mächtigen, deckte viele Skandale auf und wurde mit Preisen überhäuft. Die letzten Artikel allerdings waren umstritten, laut Kritikern vermischte der Star zunehmend Phantasie und Fakten.

Pulitzerpreis für Reportage über das Massaker von My Lai

Hersh bezeichnet sich selbst als Vertreter des goldenen Zeitalters des Journalismus, als Redaktionen weder Geld noch Aufwand scheuten, um grosse Geschichten zu publizieren. Seine berühmteste Recherche war die Aufdeckung des Massakers in My Lai während des Vietnamkriegs. 1968 ermordeten Amerikaner im vietnamesischen Dorf auf grausame Weise 504 Zivilisten. Nachdem er einen Tipp bekommen hatte, interviewte Hersh die Soldaten und verschaffte sich Einsicht in Dokumente, die von der Regierung verheimlicht worden waren. Seine Artikel über die Kriegsgreuel brachten ihm 1970 den Pulitzerpreis ein.

Kurz darauf wurde Hersh von der «New York Times» angestellt, um über den Watergate-Skandal zu berichten. Diesen hatte die «Washington Post» aufgedeckt, aber Hersh steuerte später wichtige Erkenntnisse bei. Der Skandal führte 1974 zum Sturz des damaligen Präsidenten Richard Nixon. In den nächsten Jahren folgten weitere Enthüllungen, etwa über die heimliche Bombardierung von Kambodscha während des Vietnamkriegs. Hersh verfasste zudem mehrere Bücher, darunter ein wenig schmeichelhaftes über US-Aussenminister Henry Kissinger.

Nachdem er die «New York Times» verlassen hatte, arbeitete er als Freelancer, seine publizistische Heimat fand er beim renommierten Magazin «The New Yorker». Dort schrieb er über die Folgen von 9/11, den Irakkrieg oder Afghanistan. Manchmal lag er mit seinen Einschätzungen falsch, aber es gelangen ihm einige sogenannte Scoops, exklusive Erstveröffentlichungen. Die bekannteste erschien 2004 über Folterungen durch die amerikanische Armee im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib.

Ein einsamer Wolf mit anonymen Quellen

Immer wieder schaffte es Hersh, Schlüsselfiguren zum Reden zu bringen. Mit unterschiedlichen Menschen umzugehen, habe er in seiner Jugend gelernt, schreibt er in seinen Memoiren. Er wurde 1937 in der South Side von Chicago geboren, in einem Quartier, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft wohnten. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer aus Osteuropa. Schon früh musste er nach dem Tod seines Vaters in der familieneigenen Wäscherei arbeiten. Nebenbei absolvierte er sein Geschichtsstudium.

Seine Karriere begann er als Polizeireporter in Chicago, später ging er zur Associated Press, die ihn nach Washington versetzte. Dort entwickelte er ein tiefes Misstrauen gegenüber der Regierung und deren offiziellen Stellungnahmen. Auch von seinen Berufskollegen hielt er nicht viel; er warf ihnen vor, zu wenig kritisch zu sein. Lieber recherchierte er allein.

Das Image des einsamen Wolfs entsprach seinem Charakter. Kollegen beschrieben ihn als direkt und aufbrausend. Während seiner Zeit bei der «New York Times» warf er einmal eine Schreibmaschine aus dem Fenster. Aber immer war er getrieben von der Story, an der er gerade arbeitete. «Er konnte launisch, unvernünftig stur und spröde sein. Aber, Junge, er konnte berichten», schreibt die «New York Times». Seine Quellen waren oft pensionierte Geheimdienstmitarbeiter oder Leute in mittleren Positionen, die frustriert oder entrüstet waren über die Regierung. Um die Personen zu schützen, erwähnte er sie in seinen Artikeln lediglich als anonyme Quellen. Diese Arbeitsweise wurde schon früh kritisiert, da die Behauptungen nur schwer nachzuprüfen waren.

Bin Ladins Festnahme war eine Inszenierung – sagt Hersh

Die Kritik an seinen Artikeln nahm in den vergangenen zehn Jahren zu. Eine Kontroverse löste die Geschichte über die Tötung des Al-Kaida-Führers Usama bin Ladin im Jahr 2011 aus. Laut Hersh war praktisch alles an der offiziellen Version falsch. Die Erstürmung von Bin Ladins Anwesen – von der Regierung als rein amerikanische Geheimoperation verkauft – sei eine abgekartete Sache gewesen. Bin Ladin sei schon lange in der Hand Pakistans gewesen und mithilfe einer filmreifen Inszenierung den USA übergeben worden. Im Gegenzug hätte die Regierung von Barack Obama Pakistan Militärhilfe zugesagt.

Erwartungsgemäss dementierte die Regierung. Aber auch viele Journalisten stellten sich gegen die These von Hersh: Die Beweislage sei zu dünn; die Behauptungen nur durch zwei Quellen unterstützt, die nicht direkt involviert gewesen seien. Hinzu kam, dass der «New Yorker» die Geschichte abgelehnt hatte, da die Quellenlage nicht ihren Standards entsprach. Schliesslich wurde sie 2015 in der «London Review of Books» veröffentlicht. Hersh hatte schon zuvor an Glaubwürdigkeit eingebüsst. In mehreren Artikeln behauptete er, dass Rebellen und nicht das syrische Regime chemische Waffen im Bürgerkrieg eingesetzt hatten. Diese Einschätzung war umso erstaunlicher, als nicht nur die USA, sondern auch Experten, die Uno und Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch das Gegenteil bestätigten.

Einen weiteren Artikel, in dem er den Einsatz des Nervengifts Sarin in der syrischen Stadt Khan Sheikhun 2017 bestritt, wollte nicht einmal mehr die «London Review of Books» veröffentlichen. Hersh fand in der deutschen Zeitung «Die Welt» eine Abnehmerin. Auch in dieser Geschichte verteidigte er das Regime des Diktators Asad, den er mehrmals getroffen hatte. Auffallend ist seine unkritische Haltung gegenüber diesem Regime. «Wenn die amerikanische Regierung lügt, dann sagen ihre Gegner vielleicht die Wahrheit», schreibt das britische Magazin «Prospect» über Hershs Logik.

Anfällig für Verschwörungstheorien

Anders als in früheren Recherchen zitierte Hersh in jüngeren Berichten ausser seinen anonymen Quellen weder Zeugen noch Dokumente noch sonstige Beweise. Das steht in Kontrast zur Arbeitsweise einer neuen Generation von Journalisten und Analysten, die sich auf Open-Source-Intelligence (Osint) berufen. So zeigte Eliot Higgins vom Recherchier-Netzwerk Bellingcat mithilfe von Satellitenaufnahmen, Laborberichten und Videoaufnahmen, dass die Behauptungen von Hersh über Syrien nicht stimmen konnten. Dasselbe gilt für Details im Bericht über die Nord-Stream-Pipelines: Analysten, die mit ähnlichen Methoden arbeiten, widersprechen.

Früher wurden Hershs Geschichten zwar jeweils von den Behörden zurückgewiesen, aber von anderen Medien weiterverfolgt und oft bestätigt. In den vergangenen Jahren war das kaum mehr der Fall, seine Berichte – wie jener über die Pipelines – werden vor allem von regierungsnahen russischen Medien verbreitet. In den USA wurde die These kaum aufgenommen. Seinen neuesten Artikel publizierte er auf seinem Blog. In der aktuellen Ausgabe der «Weltwoche» findet sich zudem ein Abdruck davon. Journalistenkollegen fragen sich, ob Hersh nun mit zunehmendem Alter anfällig für Verschwörungstheorien geworden ist. Andere meinen, er stecke immer noch in der Mentalität von 1969 fest und setze alle Präsidenten mit Nixon gleich.

Schon 2015 schrieb das Online-Magazin «Vox», Hersh sei immer mehr vom Weg abgekommen. «Seine Geschichten, in denen er oft von riesigen und schattenhaften Verschwörungen spricht, enthalten verblüffende – oft in sich widersprüchliche – Anschuldigungen, die auf wenig oder gar keinen Beweisen basieren, abgesehen von einer Handvoll anonymer ‹Offizieller›.» Heute ist es noch schwieriger geworden, die neuesten Arbeiten von Hersh mit dem Bild des früheren Investigativjournalisten in Einklang zu bringen.

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